50 Jahre Uniklinikum: Perspektiven der MS-Forschung

50 Jahre Uniklinikum: Perspektiven der MS-Forschung

Münchner Forscher studieren mittels moderner Mikroskopieverfahren die Mechanismen der Nervenzellschädigung bei der Multiplen Sklerose. Sie konnten zeigen, dass sich Veränderungen an Nervenzellfortsätzen spontan, aber auch unter experimentellen Therapien zurückbilden können.

Prof. Thomas Misgeld (Direktor des Instituts für Neuronale Zellbiologie)

„Wir wissen noch zu wenig über die molekularen Prozesse bei der Multiplen Sklerose, speziell über die Mechanismen der Axondegeneration“, sagt Professor Thomas Misgeld, Direktor des Instituts für Neuronale Zellbiologie an der TUM und Mitglied des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen. Obwohl sich weltweit Forscher intensiv mit der Multiplen Sklerose (MS) befassen, verfügen sie immer noch nicht über ein Gesamtbild des Krankheitsmechanismus. In detaillierter Forschungsarbeit tragen sie Stück für Stück die fehlenden Teile des MS-Puzzles zusammen – derzeit auch im Rahmen des Münchner Exzellenzclusters „Munich Center for Systems Neurology“ (SyNergy).

Charakteristisch für die Autoimmunkrankheit sind zu Beginn lokale Entzündungsherde in Gehirn und Rückenmark und eine schubweise Störung der Erregungsleitung in den Nervenzellen (Neurone). Zu den Symptomen gehören unter anderem Lähmungen, Sehstörungen oder Taubheitsgefühle. Besonders auffällig sind Schäden der Myelinschicht, also der fettreichen Hülle, welche die Nervenzellfortsätze (Axone) elektrisch isoliert. Im Verlauf der Krankheit degenerieren auch zahlreiche Axone – ein Prozess, der zum irreversiblen Verlust der neuronalen Funktion führen kann. „Dauerhafte neurologische Probleme bei MS-Patienten korrelieren mit dem Ausmaß an axonalem Schaden“, kommentiert Professor Misgeld.


Bis vor Kurzem glaubten viele Forscher, dass die Zerstörung der Myelinscheide die Hauptursache für den Verlust der Axone sei. Nun gibt es eine andere Sichtweise: Die Teams um Professor Misgeld und seinen Kollegen Professor Martin Kerschensteiner (LMU) konnten in Modellen der MS zeigen, dass auch Axone mit intakter Schutzhülle absterben. Daher scheint der Abbau der Myelinschicht nicht die einzige Ursache für die Axon-Degeneration zu sein.

Fokale Axonale Degeneration (FAD) nennen die Experten den erwähnten, noch unverstandenen Mechanismus, der in mehreren Schritten abläuft: Zunächst schwellen die Nervenzellfortsätze an bestimmten Stellen an, um später in Einzelteile zu zerfallen. Man kann sich das vorstellen, als ob sich auf einer Schnur Perlen herausbilden, sich abschnüren und dann zerfallen. Der Niedergang geschieht aber nicht sofort. Viele Axone verharren für einige Tage in geschwollenem Zustand, bevor der Zerfallsprozess einsetzt – manche erholen sich auch spontan. „Diese Zwischenstufen des FAD-Prozesses finden sich auch in Biopsien, die aus dem Gehirn von MS-Patienten entnommen wurden“, ergänzt Professor Misgeld.

Das ist nicht die einzige Auffälligkeit. Charakteristisch für die FAD ist auch eine Deformation der Mitochondrien. Die „Kraftwerke“ der Zellen, welche Neurone mit Energie versorgen, schwellen bei der MS an, bevor der FAD-Prozess beginnt. Der Experte fügt hinzu, „dass Sauerstoff- und Stickstoffradikale, die von den Immunzellen produziert werden, hier eine Rolle spielen“. Mit Hilfe molekularer Bildgebung konnten die Forscher zeigen, dass diese aggressiven Radikalarten die Mitochondrien schädigen und FAD auslösen können. Neutralisierten sie die aggressiven Moleküle mit entsprechenden Substanzen, konnten sich die betroffenen Axone wieder erholen. Die Forscher gehen deshalb davon aus, dass die FAD auch bei der MS umkehrbar sein könnte.

Ob Patienten von ihren Erkenntnissen profitieren werden, hängt laut Misgeld auch davon ab, ob eine Reihe von Fragen geklärt werden: Was passiert genau in den Mitochondrien? Ist ihre Schädigung eine Ursache für die FAD-Kaskade? Welches sind die intrazellulären Signalwege, die durch die Radikale aktiviert werden? Eventuell böte sich eine Möglichkeit, mit entsprechenden Medikamenten auf den molekularen Prozess einzuwirken – vorausgesetzt, dass dieser irgendwann komplett entschlüsselt wird. Dann könnte die FAD zu einem Ansatzpunkt für eine Therapie werden. Noch ist jedoch nicht bekannt, ob die strukturelle Erholung der Axone mit einer vollen Wiederherstellung ihrer Funktion verbunden ist. Ebenso bleibt unklar, ob die FAD der einzige Mechanismus der Axondegeneration bei der MS ist.

Antworten dazu kann im Moment niemand liefern, denn dazu fehlen laut Professor Misgeld grundlegende Erkenntnisse dazu, wie Nervenzellen auf Schäden reagieren und diese reparieren: „Auch im Kontext der MS müssen uns künftig noch intensiver mit der Anatomie und Entwicklungsdynamik des Gehirns beschäftigen.“

Evdoxía Tsakiridou 

 

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