Multiple Sklerose und Corona: „Die Therapie geht uneingeschränkt weiter“

Multiple Sklerose und Corona: „Die Therapie geht uneingeschränkt weiter“

„Miteinander stark“ ist das Motto des Internationalen Multiple Sklerose-Tages am 30. Mai. 250.000 MS-Patient*innen gibt es in Deutschland – weltweit sind rund 2,3 Millionen Menschen von der chronisch-entzündlichen Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems betroffen. 70 Prozent davon sind Frauen. Die Neuroimmunologische Ambulanz der Klinik und Poliklinik für Neurologie am Klinikum rechts der Isar ist eine der führenden Schwerpunkt-Ambulanzen für MS-Patient*innen im süddeutschen Raum. Ein Interview mit Prof. Dr. Achim Berthele, MS-Spezialist und Leitender Oberarzt der Klinik für Neurologie, über Behandlungsschwerpunkte, klinische Studien und Therapien der Multiplen Sklerose während der Coronakrise.

Herr Prof. Berthele, haben MS-Patient*innen ein höheres Risiko für einen schweren Verlauf einer Covid-19-Erkrankung?

Prof. Dr. Achim Berthele: Das ist eine ganz schwere Frage. Grundsätzlich werden  Patient*innen mit Autoimmunerkrankungen per se zur Risikogruppe gezählt. Nach allen Erfahrungen, die wir und andere internationale MS-Experten bisher haben, ist ein besonderes Risiko aber nicht zu beweisen. Relevant ist sicher auch, wie fortgeschritten die MS-Erkrankung ist. Schwere MS-Verläufe sind zum Glück durch Fortschritte in der Therapie deutlich seltener geworden. Aber MS-Patient*innen, die z.B. im Rollstuhl sitzen oder bettlägerig sind, haben wohl allein aufgrund ihrer Immobilität ein höheres Risiko, einen schwereren Verlauf zu erleiden. Hier gilt das gleiche wie bei anderen Patient*innen mit Vorerkrankungen.

Man hört, dass MS-Medikamente das Infektionsrisiko erhöhen können, weil sie die Abwehr gegen Virusinfektionen herabsetzen können. Stimmt das?

Prof. Dr. Achim Berthele: Darüber besteht eine große und noch ergebnisoffene Diskussion. Einen epidemiologisch klar zu beweisenden Zusammenhang gibt es bisher nicht. Aus diesem Grund haben wir in unserem MS-Zentrum seit Beginn der Corona-Pandemie immer zur unbedingten Fortsetzung der Therapien geraten. Ein Aussetzen der Therapie bedeutet ja auch, dass die MS wieder aktiv werden kann. Dieses Risiko schätzen wir als höher ein. Es gibt jedoch einige wenige Medikamente, die in Zyklen verabreicht werden und dabei für einige Zeit das Immunsystem stark beeinflussen. Bei diesen Arzneimitteln haben wir dazu geraten, die Therapie um einige Wochen aufzuschieben oder auf ein anderes Medikament zu wechseln. Das betraf aber nur wenige Patient*innen und die Entscheidung haben wir mit jedem Patienten individuell abgestimmt. Stand heute ist uns auch kein schwerer Covid-19-Verlauf unter unseren MS-Patient*innen bekannt.

Es gab also keine Therapieunterbrechung während der Corona-Pandemie?

Prof. Dr. Achim Berthele: Wir haben in vollem Umfang weiter therapiert – auch Dank des großen Einsatzes des Teams der MS-Ambulanz! Herzlichen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Abläufe sind zu Corona-Zeiten natürlich viel schwieriger und umständlicher als sonst. Viele ambulante Termine haben wir telefonisch realisiert, statt im direkten persönlichen Kontakt. Wir freuen uns schon darauf, wenn alle unsere Patient*innen wieder persönlich in unsere Ambulanzen kommen können. Wir sind da sehr zuversichtlich, dass wir unter Einhaltung der für alle wichtigen Hygieneregelungen bald wieder in eine neue Normalität finden werden, die zumindest fast an die alte heranreicht.

Wie viele Patient*innen betreuen Sie denn in Ihrer Spezialambulanz?

Prof. Dr. Achim Berthele: Wir betreuen derzeit etwa 2.000 Patient*innen und haben im Jahr etwa 5.000 Patientenkontakte unterschiedlicher Art: Erst-, Verlaufs- und Kontrolluntersuchungen, Vorstellung zu Laborkontrollen und klinischen Testungen, Termine zur Magnetresonanztomographie (MRT), Medikamenteneinstellung oder für Infusionstherapien. Zusätzlich zu unserer Ambulanz im Neuro-Kopf-Zentrum haben wir noch ein Infusionszentrum im Sparkassenhaus am Max-Weber-Platz.

 Prof. Dr. Achim Berthele, MS-Spezialist und Leitender Oberarzt der Klinik für Neurologie

Prof. Dr. Achim Berthele, MS-Spezialist und Leitender Oberarzt der Klinik für Neurologie

Die Neuroimmunologischen Ambulanz am Klinikum rechts der Isar

In der Neuroimmunologischen Ambulanz werden Patient*innen mit jeder Form einer neurologischen Autoimmunerkrankung nach neuestem Stand der Wissenschaft therapiert. Der Anteil an MS-Patient*innen liegt bei über 90 Prozent. Die zweithäufigste Diagnose ist die Myasthenia gravis, eine neuromuskuläre Übertragungsstörung.  Ein weiterer Schwerpunkt ist die Betreuung von Patient*innen mit Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (NMOSD). Das ist eine Gruppe seltener, chronisch-entzündlicher Erkrankungen, die vorwiegend das Rückenmark und die Sehnerven betreffen.

Welches Behandlungsspektrum können Sie Ihren Patient*innen anbieten?

Prof. Dr. Achim Berthele: Therapeutisch bieten wir alle zugelassenen MS-Medikamente an – natürlich auch solche, die per Infusion verabreicht werden müssen. Das ist nicht in jeder neurologischen Praxis problemlos möglich. Darüber hinaus können unsere Patient*innen auch Medikamente erhalten, die sich erst in der klinischen Entwicklung befinden. Außerdem stehen wir für Spezialberatungen und Zweitmeinungen mit kurzen Wartezeiten allen Patient*innen offen. Und wir betreiben verschiedene Kohortenstudien, in denen der langfristige Verlauf der Erkrankung dokumentiert wird. Das ist einer unserer wissenschaftlichen Schwerpunkte mit breiter Förderung, z.B. durch die EU oder im Rahmen des Medizininformatik-Projektes DIFUTURE.

Wie profitieren Patient*innen von den Studien?

Prof. Dr. Achim Berthele: Sie profitieren zum Beispiel von einer standardisierten und sehr aufwändigen Verlaufsuntersuchung, etwa, um frühzeitig erkennen zu können, ob die Therapie angepasst werden muss. Und natürlich erhalten sie im Rahmen von Studien die modernsten Medikamente, die die Forschung hervorbringt. Außerdem kann ich sagen: Viele unserer Patient*innen wollen auch „einfach nur“ selbst einen Beitrag zur Wissenschaft leisten. Das haben wir an der sehr großen Resonanz auf unseren Patiententag 2019 gesehen und es hat uns wirklich begeistert.

 

Beteiligte Fachbereiche und Kliniken: 

Klinik und Poliklinik für

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