„Eine Hörstörung kann den gesamten Lebensweg bestimmen“ - ein Experten-Interview

„Eine Hörstörung kann den gesamten Lebensweg bestimmen“ - ein Experten-Interview

Mit einem neuen, jungen Team und dem direkten Draht zu neuesten Forschungsergebnissen versorgt und behandelt das Hörzentrum des Universitätsklinikums rechts der Isar Menschen mit einer Schwerhörigkeit. Privatdozentin Dr. Nora Weiss, seit Juli neue Leiterin des Hörzentrums, und ihre Kollegin Dr. Sabrina Regele, seit September Leiterin der Pädaudiologie und damit Expertin für Hör- und Sprachentwicklungsstörungen bei Kindern, erklären im Interview, warum es so wichtig ist, Hörprobleme rechtzeitig zu erkennen – und wie ihr Team Betroffenen hilft.

Kommt es öfter vor, dass Taubheit bei Kindern erst spät diagnostiziert wird?

Dr. Nora Weiss: Dank der vorgeschriebenen Vorsorgeuntersuchungen in der Diagnostik von Neugeborenen ist es erfreulicherweise extrem selten, dass betroffene Kinder übersehen werden. Aber in den wenigen Fälle, in denen das doch der Fall ist, ist das für das Kind dramatisch – weil eine nicht erkannte Schwerhörigkeit vor allem im Kindesalter erhebliche Auswirkungen auf die individuelle Entwicklung haben kann.

Welche Auswirkungen sind das?

Dr. Sabrina Regele: Eine unversorgte Schwerhörigkeit beim Kind hat nicht nur Einfluss auf die Sprachentwicklung, sondern auch auf die soziale und emotionale Entwicklung und den Schulabschluss. Das heißt, der ganze weitere Lebensweg ist dann von der Hörstörung bestimmt. Auch die Interaktion mit anderen Menschen ist betroffen, ein sozialer Rückzug droht. Auf jeden Fall liegen viele Steine im Weg.

Dr. Weiss: Auch bei Erwachsenen hat Schwerhörigkeit tiefgreifende Folgen: Sie entwickeln sich vielleicht sogar zurück, es kommt zu einer gewissen Isolation. Das kann auch Auswirkungen auf die Kognition haben. Es gibt wahrscheinlich sogar einen Zusammenhang zwischen einer unversorgten Schwerhörigkeit und Demenz. Aber mit den technischen Hilfsmitteln, die wir heute haben, muss das nicht mehr so sein!

Ist das Wissen über Cochlea-Implantate in der Öffentlichkeit und bei Fachärztinnen und -ärzten ausreichend?

Dr. Weiss: Dass es so etwas wie ein Cochlea-Implantat gibt, ist vielen bekannt. Allerdings ist das Wissen, was ein solches Implantat heute leis-ten kann, noch nicht überall in ausreichendem Maße vorhanden. Wahrscheinlich gibt es an verschiedenen Stellen noch Berührungsängste oder Vorurteile, die sich halten. Dabei sind die technischen Neuerungen und die Entwicklung bei diesen Implantaten und auch die Verbesserung der chirurgischen Techniken so weit fortgeschritten, dass man im Grunde nicht häufig genug darüber sprechen kann, um diese Berührungsängste abzubauen.

Wann ist denn das beste Alter, um Hörprobleme bei Kindern zu beheben?

Dr. Regele: Hörstörungen bei Kindern sollten so früh wie möglich ver-sorgt werden. Deshalb wurde 2009 das Neugeborenen-Hörscreening eingeführt. Wir können schon Säuglinge und Kleinkinder mit Hörgeräten versorgen. Wenn Hörgeräte nicht mehr ausreichen oder das Kind sogar gehörlos ist, versorgen wir Kinder ab dem 6. Lebensmonat mit Cochlea-Implantaten.

Welche Herausforderungen birgt die Arbeit mit so jungen Patient*innen?

Dr. Regele: Kinder machen nicht immer gut mit. Sie sind nicht immer gut gelaunt und nicht immer kooperativ. Daher ist es gerade in der pädaudio-logischen Diagnostik wichtig, dass man subjektive und objektive Verfahren hat und diese immer zusammen beurteilt, um zu wissen, wie gut das Hörvermögen des Kindes ist. Was bietet das Hörzentrum in dieser Hinsicht?

Dr. Regele: Wir bieten eine sehr ausführliche pädaudiologische Diagnostik einschließlich einer Hirnstamm-Audiometrie. Im Schlaf wird dabei das Ohr mit Klickgeräuschen stimuliert und die Reaktion des Gehirns mittels Elektroenzephalogramm gemessen. Diese Untersuchung führen wir möglichst im Spontanschlaf durch. Wenn das nicht klappt, ist bei uns am Universitätsklinikum rechts der Isar auch eine Hirnstamm-Audiometrie in Narkose möglich – um ganz sicher sagen zu können, wie gut das Kind hört.

Worauf kommt es nach dem Einsetzen eines Cochlea-Implantats an?

Dr. Regele: Die Nachsorge ist extrem wichtig! Im Vergleich zu Hörgeräten, die die vorhandene Hörfähigkeit verbessern, ist es beim Cochlea-Implantat so, dass das Kind das Hören und das Sprachverstehen erst erlernen bzw. wieder erlernen muss. Deshalb ist die regelmäßige Nachsorge extrem wichtig für den Erfolg. Dazu gehört die regelmäßige Anpassung des Soundprozesses genauso wie die logopädische Therapie und Beratung der Eltern.

Woran erkennt man, dass das eigene Kind nicht richtig hören kann?

Dr. Regele: Vor allem an der Sprachentwicklung, da gibt es gewisse Grenzsteine. Mit sechs bis neun Monaten sollten Kinder Silben etwa zu „ba-ba“ oder „da-da“ aneinanderreihen können. Nach dem ersten Le-bensjahr sollten sie einzelne Wörter sagen können und mit zwei Jahren sollte ein Kind Zweiwortsätze sprechen. Wenn es da Verzögerungen gibt, ist immer der erste Schritt, das Hörvermögen zu prüfen. Man erkennt Schwerhörigkeit aber auch in der Interaktion von Kindern: Kinder, die nicht hören, zeigen sich oft sehr auffällig, sehr laut. Das wird oft auch mit Autismus-Spektrum-Störungen verwechselt.

Privatdozentin Dr. Nora Weiss, Leiterin des Hörzentrums an der Klinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde des Klinikums rechts der Isar der Technischen Universität München (TUM). Foto: Kathrin Czoppelt, Klinikum rechts der Isar

Privatdozentin Dr. Nora Weiss, Leiterin des Hörzentrums an der Klinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde des Klinikums rechts der Isar der Technischen Universität München (TUM). Foto: Kathrin Czoppelt, Klinikum rechts der Isar

Wie kommen die Patient*innen zu Ihnen?

Dr. Weiss: Ein Teil kommt aus unserer eigenen Klinik, da wir das Neu-geborenen-Hörscreening in der Gynäkologie unseres Hauses durchführen: Sind Untersuchungen auffällig, werden diese Kinder direkt zu uns ins Hörzentrum geschickt. Auch Kinderärzt*innen, die Auffälligkeiten bei Untersuchungen festgestellt haben, überweisen uns Kinder. Dazu kommen Zuweisungen Erwachsener, die sich aufgrund einer Schwerhörigkeit an unsere Hochschulambulanz wenden, sowie über die niedergelassene Hals-Nasen-Ohren-Ärzte oder Hausärzte.

Kann man sich auch direkt an Sie wenden?

Dr. Weiss: Eine Kontaktaufnahme und Terminvereinbarung über das Hörzentrum ist jedem Patienten und jeder Patientin möglich. Für den ersten persönlichen Termin ist dann eine Zuweisung über einen anderen Facharzt oder eine Fachärztin erforderlich. Die HNO-Klinik des Universitätsklinikums rechts Isar ist vor Kurzem als CI-versorgende Einrichtung zertifiziert worden.

Was bedeutet das?

Dr. Weiss: Die Zertifizierung durch die Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Ärzte ist eine Art Siegel dafür, dass Einrichtungen auf einem besonders hohen Niveau und nach selbst auferlegten Mindestanforderungen und Standards arbeiten. Das gilt für die Operation ebenso wie für die Diagnostik und die Beratung vor der Untersuchung durch technisch sehr versiertes und gut geschultes Personal und auch für die Rehabilitationsmaßnahmen, die entsprechenden Nachkontrollen und das Know-how der versorgenden Ärztinnen und Ärzte.

An der Technischen Universität München gibt es eine Professur für Experimentelle Audiologie. Bringt auch das Vorteile für die Patient*innen im Hörzentrum?

Dr. Weiss: Absolut! Diese Professur ist erfreulicherweise hochkarätig besetzt worden mit Professor Wilhelm Wimmer, der aus der Universitätsmedizin vom Inselspital in Bern zu uns gekommen ist. Die Nähe zur Forschung und Wissenschaft ist die beste Gewährleistung dafür, dass auf höchstem Niveau und mit modernsten Techniken gearbeitet wird. Dank der Kooperation mit Professor Wimmer können wir die neuesten Erkenntnisse und technologischen Entwicklungen unmittelbar klinisch umsetzen, zum Beispiel den Einsatz moderner Messverfahren zur strahlungsfreien Bestimmung der Einführtiefe der Implantate. Gleichzeitig profitiert die Professur von unseren klinischen Erfahrungen – das ist ein Geben und Nehmen.

Frau Dr. Weiss, was möchten Sie als neue Leiterin des Hörzentrums erreichen?

Dr. Weiss: Eines unserer Herzensthemen ist es, die korrekte Erkennung von Schwerhörigkeiten bei Kindern weiter zu verbessern und das Diagnostik-Angebot zu erhöhen. Wir haben auch ein Projekt in Planung, wo wir überprüfen wollen, ob wir die Screening-Untersuchungen im Rahmen der Vorschuluntersuchungen noch verbessern können, um sicherzustellen, dass Schwerhörigkeiten nicht übersehen werden – etwa so wie in Theos Fall.

Wir gehen aber auch davon aus, dass es leider ebenso unter den Erwachsenen eine sehr hohe Dunkelziffer an Menschen gibt, die sich aufgrund einer nicht ausreichend behandelten Schwerhörigkeit bereits sozial zurückgezogen haben. Gemeinsam mit den Spezialist*innen des Universitätsklinikums rechts der Isar und den Wissenschaftler*innen der Technischen Universität München wollen wie hier Berührungsängste abbauen.

Wir möchten die Hürden, den Weg hin zum oder zurück ins Hören zu finden, für Jung und Alt reduzieren und für unsere Patient*innen immer ein offenes Ohr haben. Wir möchten darauf aufmerksam machen, dass die Cochlea-Implantation und die Versorgung von Hörstörungen ein wachsendes, sich schnell bewegendes Feld ist, wo wir sehr, sehr viele Möglichkeiten haben, Leute wieder ins Hören und damit auch ins Leben zurückzuholen. Dafür stehen wir gerne für Beratungen zur Verfügung.

Dr. Sabrina Regele, Leiterin der Pädaudiologie des Hörzentrums der Klinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde des Klinikums rechts der Isar der Technischen Universität München (TUM). Foto: Kathrin Czoppelt, Klinikum rechts der Isar

Beteiligte Fachbereiche und Kliniken: 

Klinik und Poliklinik für

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