Berührende Botschaften für die Zeit nach Corona

Berührende Botschaften für die Zeit nach Corona

Tagebuch aus der Covid-Intensivstation R3a des Klinikums rechts der Isar

Das ganze Land im Lockdown, Besuchsverbot in Krankenhäusern und Pflegeheimen, geschlossene Schulen und Kitas, Zigtausende Menschen in Kurzarbeit. Die Hochphase der Corona-Pandemie in Deutschland hat uns allen viel abverlangt. Ganz besonders den Pflegenden auf den Covid-19-Stationen und den schwer kranken Corona-Patient*innen, beatmet im künstlichen Koma liegend, abgeschnitten von ihren Angehörigen, die sie nicht besuchen durften. Der Empathie und dem Einfallsreichtum unserer Pflegenden auf den Covid-19-Stationen haben wir es zu verdanken, dass unsere Covid-19-Patient*innen nicht nur medizinisch auf höchstem Niveau versorgt wurden, sondern auch mit Menschlichkeit und Mitgefühl umsorgt.

 

Marina Ufelmann und ihre Kolleg*innen auf der Intensivstation R3a führten ein Intensivtagebuch für die Covid-19-Patientinnen

Marina Ufelmann und ihre Kolleg*innen auf der Intensivstation R3a führten ein Intensivtagebuch für die Covid-19-Patientinnen

Fotos: Klinikum rechts der Isar / Argum

 

Jeden Tag ein neuer Eintrag

„Am 20 . April begannen wir auf der Covid-19-Intensivstation R3a ein Intensivtagebuch für unsere Patient*innen zu führen“, sagt Marina Ufelmann, Fachkrankenschwester für Anästhesie- und Intensivpflege und Leiterin des Arbeitskreises „angehörigenfreundliche Intensivstation“ am Klinikum rechts der Isar. Das Projekt steckte schon seit Monaten in der Vorbereitung. Dann ging es ganz schnell mit der Einführung.

Für alle 14 Patienten der R3a wurde ein gestalteter Ringhefter als Tagebuch geführt – nach zwei Monaten waren es bereits rund 40 Tagebücher. „Jeden Tag kommt ein Eintrag entweder von Pflegenden, Ärzt*innen, Physiotherapeut*innen hinzu“, erklärt Marina Ufelmann. Ein Eintrag dauert im Durchschnitt fünf Minuten. „Die Kolleg*innen machen das oft nach Feierabend.“ Angehörige erhalten leere Blätter, die sie selbst beschreiben können und in den Ringhefter einfügen.

 

Thomas Kammerer ist Leiter der Seelsorge (rk) am Klinikum rechts der Isar

Thomas Kammerer ist Leiter der Seelsorge (rk) am Klinikum rechts der Isar

Das Intensivtagebuch

Das Intensivtagebuch wird während der Zeit der Bewusstseinsstörung eines Patienten von Pflegenden und meist auch von Angehörigen geführt. Es beschreibt in täglichen Einträgen die medizinische Entwicklung des Patienten oder der Patientin, zum Beispiel, ob eine Therapie eingeführt oder beendet werden konnte. Ob er oder sie vielleicht schon auf dem Weg der Besserung ist oder sich der Zustand trotz intensiver Behandlung verschlechtert hat. Aber auch persönliche Eindrücke und Beobachtungen werden niedergeschrieben. Wie geht es dem Patienten heute? Hat er oder sie z.B. gelächelt oder gestöhnt – und darum ein Schmerzmittel erhalten? Wurde ein Händedruck erwidert? Es sind persönlich formulierte Nachrichten an den Patienten, die ihm oder ihr später helfen können, die Zeit auf der Intensivstation besser zu verstehen und zu verarbeiten.

 

In Skandinavien und England ist das Intensivtagebuch bereits weit verbreitet und gilt als evidenzbasierte Maßnahme mit einer langanhaltenden positiven Wirkung für die Patienten. Viele Patienten, gerade wenn sie sediert werden müssen, träumen besonders intensiv und können später nicht mehr genau zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden. Da häufig sehr bedrohliche Erlebnisse geträumt werden, kann eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entstehen. Auch Angehörige können davon betroffen sein. Ein Intensivtagebuch hat einen nachgewiesenen lindernden Einfluss auf die Entstehung von PTBS, Angst und Depression. Darum wird es nach und nach auf allen Intensivstationen des Klinikums rechts der Isar eingeführt werden.

Tagebuch hilft beim Verstehen und Verarbeiten

Die Einträge enthalten Beobachtungen: Wirkte der Patient entspannt, unruhig, wurde gekühlt oder Medikamente gegen die Schmerzen gegeben? Aber auch mal ein Satz übers Wetter wird aufgeschrieben, eine Bemerkung zu den aktuellen Corona-News oder dem Essen.

„Das Feedback von Familien von Verstorbenen ist sehr gut. Sie haben uns das Buch förmlich aus den Händen gerissen“, sagt Ufelmann. Bei überlebenden Covid-19-Patienten wartet sie noch auf Rückmeldung. „Der Patient sollte beim ersten Lesen nicht alleine sein. Er oder sie kann das Tagebuch auch einfach wegwerfen oder ganz hinten in einer Schublade vergraben“, sagt Ufelmann. Studien konnten jedoch zeigen, dass das Intensivtagebuch Flashbacks mindert und die Menschen die Zeit auf der Intensivstation besser verstehen und verarbeiten können.

Marina Ufelmann ist Fachkrankenschwester für Anästhesie- und Intensivpflege, Praxisanleiterin und Leiterin des Arbeitskreises „angehörigenfreundliche Intensivstation“

Marina Ufelmann ist Fachkrankenschwester für Anästhesie- und Intensivpflege, Praxisanleiterin und Leiterin des Arbeitskreises „angehörigenfreundliche Intensivstation“

Das letzte Foto

„Als ich meinen ersten sterbenden Covid-19-Patienten hatte, war ich erstmals mit dem speziellen Ablauf konfrontiert. Der Verstorbene kommt sehr schnell in einen Leichensack und in die Pathologie. Wir Pflegenden sind die einzigen, die diesen Menschen verstorben sehen. Dann habe ich lange mit unserem Seelsorger Thomas Kammerer telefoniert. Gemeinsam mit der pflegerischen und ärztlichen Stationsleitung haben wir entschieden, ein letztes Foto zu machen“, erzählt Marina Ufelmann weiter.

Dazu muss man wissen: Das Besuchsverbot während der Hochphase der Corona-Pandemie ermöglichte nur Besuche bei sterbenden Patient*innen. Und nur von Angehörigen, die selbst nicht in Quarantäne waren. Aber die Angehörigen, die mit dem Covid-19-Patienten in einem Haushalt lebten, befanden sich häufig in Selbstisolation oder waren selbst erkrankt – so dass sie nicht kommen konnten oder durften.

 

„Wir verabschieden uns im Tagebuch von den verstorbenen Patienten. Das ist auch eine Art Selbsttherapie. Man gibt sein Mitgefühl, das man sonst den Angehörigen aussprechen würde, ins Tagebuch.“
Marina Ufelmann

 

Angehörige waren in guten Händen

„Dieses letzte Foto ist sehr hilfreich für Angehörige, die nicht selbst Abschied nehmen konnten. Die sich nie ein Bild machen konnten von der Situation im Krankenhaus, von den Ärzt*innen und Pflegenden“, sagt Thomas Kammerer, Leiter der Klinikseelsorge (rk) am Klinikum rechts der Isar. „Wir Menschen leben von Bildern in unserem Kopf. Aber die Angehörigen hatten nichts. Die Bilder der Fantasie sind immer grausamer als die echten.“

Das letzte Foto ist ein würdiges Bild. Fürsorgend. Friedlich. Es zeigt: Dein geliebter Mensch war gut umsorgt und gepflegt in seinen letzten Tagen und Wochen. Wir waren da für diesen Menschen. Wir waren auch da, als er starb.

„Das Foto wird immer dankbar angenommen“, sagt Kammerer. Für die Hinterbliebenen ist es eine persönliche Botschaft von Menschen, die sich um ihren Angehörigen gekümmert haben. „Dein Angehöriger war in guten Händen“, flüstert das Bild.

 

„Meine zwei Lehren aus der Pandemie:

1. Wir müssen wieder lernen, Risiken als Teil unseres Lebens anzunehmen. Wir müssen mit dem Tod leben. Medizin kann nicht alles richten. Wir sind nicht allmächtig.

2. Wir haben eine neue Form von Solidarität und Miteinander am Klinikum rechts der Isar erlebt. Wir sitzen alle in einem Boot und müssen gemeinsam rudern. Das war eine sehr schöne Erfahrung, die hoffentlich nicht im Alltag verloren geht."
Thomas Kammerer

 

Wir sind immer da

„Die Menschen sterben bei uns nicht allein“, sagt Marina Ufelmann Auf der Intensivstation sind wir immer da.“ Wenn ein Patient verstorben ist, machen viele Kolleg*innen ein Fenster auf, damit die Seele gehen kann. „Ein Kollege von mir geht immer raus, holt etwas aus der Natur und legt es zum Verstorbenen, damit dieser mit der Erde verbunden ist.“

Marina Ufelmann hat verstanden: Während einer Virus-Pandemie mit Besuchsverbot in Krankenhäusern braucht es zwei Bausteine, um zu begreifen, dass der geliebte Mensch nicht mehr da ist: ein Bild des Verstorbenen und den Krankheitsverlauf, niedergeschrieben in einem Intensivtagebuch. Das ist ein würdiger Abschluss.

Und jede Mühe wert.

 

Aus den Intensivtagebüchern

Liebe Familie von Frau Tillenberg*, der Zustand von Frau Tillenberg hat sich in den letzten Tagen sehr verschlechtert. Trotz all unserer Maßnahmen konnten wir den Zustand Ihrer Mutter und Schwester nicht bessern. Gestern Abend war dann leider abzusehen, dass Frau Tillenberg den morgigen Tag nicht überleben wird. Wir sind froh, dass sich zumindest der Sohn und die Tochter von der Mutter verabschieden konnten in der Zeit der Corona-Pandemie. Heute in der Früh ist Frau Tillenberg in meinem Beisein verstorben. Ich habe ihr die Hand gehalten und ihr erzählt, dass Sie alle bei ihr waren bzw. in Gedanken bei ihr sind. Sie sah sehr friedlich aus als ihr Herz stehen geblieben ist. Wir wünschen Ihnen allen viel Kraft in dieser schweren Zeit. Ihr Intensivteam.

Lieber Herr Meyer*, seit langem habe ich Sie mal wieder betreut. Sie liegen jetzt schon so lange bei uns. Es hat sich aber einiges getan in den letzten Wochen. Sie können schon wieder lächeln und haben mich heute im Stuhl mit einem Handkuss begrüßt. Was für ein Gentleman! Am Nachmittag haben Sie einen Sprechaufsatz auf Ihre Kanüle am Hals bekommen und gleich haben mir von Ihrer lieben Frau erzählt. Was für eine schöne Liebesgeschichte! Bis morgen, Kim* (Pflege)

Hallo Herr Limpers*, mein Name ist Johann* und ich betreue Sie heute zum ersten Mal. Meine Kollegen haben mir schon viel von Ihnen erzählt – viele Aufs und Abs! Heute Nacht waren Sie ziemlich unruhig und wollten die ganze Zeit das Bett verlassen. Noch sind Sie aber zu schwach, um das zu schaffen. Heute Nachmittag haben wir aber den Versuch gewagt und Sie in einen Stuhl gesetzt und Richtung Fenster geschoben. Seit Wochen der erste Wind im Gesicht. Das war bestimmt ein gutes Gefühl. Bis die Tage, Johann.“

Liebe Frau Meyer*, heute war ein großartiger Vormittag! Sie saßen das erste Mal an der Bettkante seitdem Sie bei uns sind. Sie haben gelächelt und unsere Fragen mit Kopfbewegungen beantwortet. Sprechen können Sie ja noch nicht – aber wenn Sie sich so gut entwickeln wie bisher, kann hoffentlich bald der Beatmungsschlauch aus dem Mund entfernt werden. Meine liebe Kollegin hat Ihnen an der Bettkante den Rücken massiert. Es war so schön, dass wir auch ein Foto gemacht haben. Vielleicht möchten Sie es sich ansehen. Morgen sehen wir uns wieder! Isabell* (Pflege)

Servus Herr Maurer*, nach langer Zeit konnten wir heute Vormittag endlich den Beatmungssschlauch aus Ihrem Mund entfernen. Bis hierhin war es ein harter Kampf mit vielen Aufs und Abs. Ich habe mich soooo sehr gefreut, als ich Ihre Stimme das erste Mal gehört habe! Ihr erstes Wort war „Durst!“ Natürlich habe ich gleich Ihren Mund befeuchtet. Auf das Trinken müssen Sie noch etwas warten. Pflegerin Julia*

Liebe Frau Hilbers*, Sie liegen jetzt schon so lange bei uns. Schon sechs Wochen. Seit einigen Tagen verbessern Sie sich zunehmend. Sie haben heute das erste Mal Ihre Finger ein kleines bisschen bewegt und die Augen geöffnet – so dass ich Ihre schönen braunen Augen sehen konnte. Das hat mich sehr gefreut! Jetzt ist aber auch Geduld gefragt – Schritt für Schritt auf dem Weg der Genesung. Wir unterstützen Sie dabei, sowie Ihr Mann und Ihr Sohn! Pflegerin Rita*

 

Hallo liebe Frau Hilbers*, sie brauchen keine Dialyse mehr! Wie schöööön! Daher konnten wir heute den großen Schlauch am Hals ziehen. Der hat Sie bestimmt die ganze Zeit gestört, mit den Nähten an der Haut, immer ein kleines Ziepen bei jeder Kopfbewegung. Aber jetzt ist er weg. J Auf dass es so weiter geht! Ihre betreuende Pflegekraft Kim*

Hallo Frau Müller*, ich bin´s wieder Susanne. Heute war ein erfolgreicher Tag für uns! Gemeinsam saßen wir an der Bettkante und Sie konnten heute das erste Mal den Kopf alleine halten! Ein riesen Fortschritt! Weiter so! Anschließend hatten Sie eine Haarwäsche mit Kopfmassage. Morgen sehen wir uns wieder – bis dahin eine schöne Zeit!

Liebe Frau Obermaier*, der Zustand Ihrer Lunge hat sich wieder verschlechtert. Wir mussten Sie wieder auf den Bauch legen, damit Ihre Lunge den Sauerstoff besser verarbeiten kann. Wir vom Intensivteam kämpfen um Ihr Leben und tun alles, damit es Ihnen bald wieder besser geht.

Hallo Herr Vogel*, Mein Name ist Tim* und ich betreue Sie heute. Ihre Frau hat mir heute erzählt, dass Sie gerne klassische Musik hören. Ich habe einen passenden Sender im Radio gefunden und als wir vor dem Bett standen, haben Sie mit der Physiotherapeutin ein paar Tanzschritte hingelegt. Damit haben wir noch vor einer Woche nicht gerechnet! Ein steiler Genesungsweg. Servus Tim

Hallo lieber Herr Ötzmen*, sie liegen nun schon so lange bei uns auf der Intensivstation. Ihr Zustand hat sich in den letzten Stunden zunehmend verschlechtert. Ihr Herz schlägt sehr schnell und unregelmäßig und ihre Leberfunktion hat sich auch sehr verschlechtert. Das wirkt sich in ihrem ganzen Körper negativ aus. Wir haben Ihre Frau angerufen, damit sie sich noch von Ihnen verabschieden kann. Wir geben Ihnen Schmerzmittel, damit sie entspannt sein können. Liebe Grüße Ulrike* (Pflege).

Lieber Max*, heute konnten wir Deine Schwester zu Dir ins Zimmer lassen, damit sie Abschied von Dir nehmen konnte. Leider hast Du den heutigen Tag nicht überlebt. Obwohl wir alles dafür getan haben, dass Du die Station gesund verlassen kannst. Wir hoffen, dass wir Dir in Deiner letzten Zeit beistehen konnten und dass Du nicht leiden musstest. Deiner Familie wünschen wir viel Kraft für diese unglaublich schwere Zeit. Dein Intensivteam.

 

*Alle Namen geändert

Unsere Expert*innen

Marina Ufelmann ist Fachkrankenschwester für Anästhesie- und Intensivpflege und bildet als Praxisanleiterin für Intensivpflege Kolleg*innen für diesen Beruf fort. Außerdem leitet sie den Arbeitskreis „angehörigenfreundliche Intensivstation“. Derzeit absolviert sie zudem ein Masterstudium an der Hochschule München in „Advanced Nursing Practice“.

 

Thomas Kammerer ist katholischer Pfarrer und arbeitet seit über 20 Jahren in der Klinikseelsorge – seit 2011 ist er Leiter der Seelsorge (rk) am Klinikum rechts der Isar. Er hat Ausbildungen u.a. in der Klinischen Seelsorge, in Psychotraumatologie und Krisenintervention und als Rettungssanitäter.

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